Newsletter Dezember 2024/Januar 2025
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Menschenrechte ohne Grenzen e.V.

Italien

Newsletter Italien

Das vergangene Jahr an der EU-Außengrenze

Dezember 2024/Januar 2025

2024 war ein Jahr der verschärften Repression gegen Menschen auf der Flucht und der wachsenden Herausforderungen für jene, die sich für ihre Rechte einsetzen. Obwohl die Anlandungen in Italien geringfügig sanken, stieg prozentual die Todesrate im Massengrab Mittelmeer. Mit dem Gesetzesentwurf zum Sicherheitsdekret und dem "Decreto Flussi" traten Ende 2024 Gesetzesänderungen in Kraft, die nicht nur den Zugang zu Asylverfahren erschweren, sondern auch sogenannte „sichere“ Herkunftsländer per Gesetz jährlich festlegen, die Aufhebung von Schutzstatus erleichtern und die Demonstrationsfreiheit massiv einschränken, inklusive derer von in Abschiebungshaftzentren inhaftierten Migrant*innen, die keinerlei Straftat begangen haben.


Italien baute die Festung Europa durch zahlreiche bilaterale Abkommen weiter aus, die Abschiebungen erleichtern und Verantwortung auf Drittstaaten wie Albanien externalisieren. In Albanien liefen Grenzverfahren an, deren potentielle Unvereinbarkeit mit EU-Recht zu einer Bedrohung der Justiz wurden. Die Täter-Opfer-Umkehr durch die Kriminalisierung von Migrant*innen, die eine Zukunft in Europa suchen, erfolgte nicht nur in den Grenzverfahren in Sizilien, sondern auch unter italienischer Gesetzgebung in Albanien. 


Gleichzeitig nahm der Druck auf kritische Stimmen und unabhängige Berichterstattung zu. Manipulation der öffentlichen Meinung und Einschränkungen der Pressefreiheit bedrohen die Meinungsvielfalt. Unser Artikel „Ein unheilbares Phänomen systematischer, mörderischer und politischer Gewalt“ beleuchtet diese Entwicklungen.


Trotz aller Widrigkeiten bleiben wir standhaft und setzen uns weiter für die Rechte von Menschen auf der Flucht und gegen Ungerechtigkeit ein! 

(Foto: Silvia di Meo, Abschiebungshaft Trapani-Milo)

Neues Monitoring-Projekt

GEAS-Implementierung in Sizilien

borderline-europe und Maldusa

Illegale Push-Backs und Pull-Backs (Interceptions) prägen die tägliche Realität von Flüchtenden, besonders im östlichen und zentralen Mittelmeerraum. Die anhaltenden Bemühungen der EU, das Grenzregime zu externalisieren, manifestieren sich in millionenschweren Abkommen mit Ländern wie der Türkei, Libyen, Tunesien, Mauretanien, Ägypten und dem Libanon. Europa ist in den letzten Jahren zunehmend von Angriffen auf die Menschenrechte und einem dramatischen Abbau der Rechte von Schutzsuchenden geprägt. Ein markantes Beispiel hierfür ist das „Gemeinsame Europäische Asylsystem“ (GEAS), das Abschiebegewahrsam an den EU-Außengrenzen zur Norm erheben möchte.


Im September 2024 fiel der Startschuss für unser neues Monitoring-Projekt zur Situation von Menschen auf der Flucht im Lichte des Europäischen Migrationspakts. In dem bei der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM) angesiedelten und von der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKIR), LeaveNoOneBehind und Pro Asyl unterstützen Projekt arbeiten borderline-europe und der sizilianische Verein Maldusa gemeinsam. Sizilien als südliche Außengrenze der EU und wichtiger Ankunftsort für Migrant*innen steht dabei exemplarisch für die Umsetzung der neuen Asyl- und Migrationspolitik und den EU-Pakt zur Migration. Durch das Abkommen zwischen Italien und Albanien wird Italien zu einem der ersten EU-Staaten, der versucht, Grenzverfahren, Abschiebungshaft und Asylentscheidungen auszulagern. Es ist für uns von zentraler Bedeutung, diese Entwicklung weiterhin aufmerksam zu verfolgen und die unersetzliche Rolle der Zivilgesellschaft sowie die entscheidenden Stimmen der Migrant*innen in den Mittelpunkt zu rücken. Lesen Sie hier unseren ersten Bericht zur Umsetzung der neuen Grenzverfahren in Italien nach dem sog. "Cutro-Dekret".

Monatliches Kurzupdate

Scirocco

Politische Entwicklungen in Italien

In unserem Kurzupdate „Scirocco“ geben wir regelmäßig einen Überblick über die aktuellen politischen Entwicklungen in Italien. In den vergangenen Monaten Oktober und November 2024 zeigen sich vor allem diese wiederkehrende Themen:


Menschenverachtende Externalisierung nach Albanien 

Das italienische Bestreben, externalisierte Schnellverfahren in Haftzentren in Albanien durchzuführen, begann im Oktober und wurde durch italienische Richter*innen im November ausgesetzt. Im Januar 2025 soll es jedoch wieder aufgenommen werden. Nachdem die erste Überführung von 16 Migranten aufgrund der Frage nach der effektiven Sicherheit von sog. „sicheren“ Herkunftsländern scheiterte, wurde der zweite Versuch, acht Migranten in Albanien zu inhaftieren, wegen einem Kompatibilitätskonflikt zwischen italienischem und EU-Recht gestoppt. Das hatte zur Folge, dass die von italienischem Personal geführten albanischen Zentren wochenlang leer standen und das Betriebspersonal Ende November aus Albanien abzog (Ausgabe Nr. 16). Die Regierung Meloni hält dennoch unbeirrt an ihrer Externalisierungsstrategie fest. Mehr Details zu der Diskussion und den Umständen findet ihr im Artikel "Die erste Tour – das Versagen der italienischen Externalisierungspolitik in Albanien".


Untergrabung der Justiz

Erzürnt über die oben beschriebenen Entscheidungen der Richter*innen, verlegte die Meloni-Regierung Anfang Dezember durch das "Flussi-Dekret" u.a. die Zuständigkeiten für die Bestätigung von Inhaftierungen in Albanien von der qualifizierten Immigrationsabteilung des Gerichts in Rom auf die Berufungsgerichte. In einer Entscheidung vom 19. Dezember hat Italiens höchstes Gericht jedoch geurteilt, dass Richter*innen nicht an die von der Regierung genehmigte Liste von Herkunftsländern gebunden sind, wenn diese im Widerspruch zum EU-Recht steht sowie dass die Sicherheit jedes Einzelfalls individuell bewertet werden muss. 


Der Gesetzesentwurf des „Sicherheitsdekrets“ (DDL Sicurezza) kriminalisiert nicht nur weiter Migration, sondern auch Proteste und zivilen Widerstand. Protestaktionen, auch in Inhaftierungszentren, können mit bis zu 20 Jahren Haft geahndet werden. Das Dekret löste landesweite Proteste aus und wird von Jurist*innen als Angriff auf die Grundrechte kritisiert.


Proteste

Im November kam es zu Protesten in einem Unterbringungszentrum in Bari (Apulien). Auslöser war der Tod eines 33-jährigen Bewohners, der nach einem Suizidversuch verstarb und laut Bewohner*innen unzureichend medizinisch versorgt wurde (Ausgabe Nr. 16). Ein im Dezember vom Europäischen Anti-Folter-Komitee (CPT) erschienener Bericht über italienische Abschiebungszentren (CPRs) dokumentiert Fälle von Misshandlungen durch die Polizei, schlechte Haftbedingungen, fehlende Beschäftigungsangebote und die Verabreichung nicht verschriebener Psychopharmaka. 


Schiffbrüche vor Gericht

Zu unserem Entsetzen wurde am 20. Dezember der ehemalige Innenminister Matteo Salvini von allen Anklagepunkten in dem von der NGO Open Arms angestrengten Prozess freigesprochen. Er hatte 2019 nach der Rettung von 163 Menschen durch die Open Arms die Einreise von 147 Personen in einen sicheren Hafen verhindert. Open Arms verklagte Salvini wegen Freiheitsberaubung und Amtsmissbrauch. Vorab wurden die Staatsanwält*innen, die eine sechsjährige Haftstrafe forderten, mit Schmierkampagnen und sogar Todesdrohungen belästigt. Unser Artikel vom 09.10.2024 beleuchtet den Prozess und seine Wirkung in der italienischen Öffentlichkeit.


Nach dem Cutro-Schiffsunglück im Jahr 2023, bei dem mindestens 94 Menschen ertranken, wurden im November drei mutmaßliche „Schmuggler“ angeklagt. Die Anklage fordert Haftstrafen von 11 bis 18 Jahren sowie Geldstrafen in Millionenhöhe wegen mehrfachen Totschlags und Beihilfe zur unerlaubten Einreise. Der Prozess richtet den Fokus auch auf sechs Beamt*innen, denen Fahrlässigkeit und mehrfacher Totschlag vorgeworfen wird, da sie über fünf Stunden keine Rettungsmaßnahmen einleiteten. Die Regierung verteidigt die Beamt*innen jedoch. (Ausgabe Nr. 16)

Monatliches Update

Central Mediterranean Info

Entwicklungen auf dem Zentralen Mittelmeer

In unserer monatlichen Central Mediterranean Info (CMI) teilen wir die von uns erhobenen Daten zur Seenotrettung im zentralen Mittelmeer, wie Ankünfte in Italien, Interceptions von libyschen und tunesischen Behörden sowie Tote und Vermisste. Außerdem sammeln wir Neuigkeiten aus den Gerichtsprozessen und zu den neuen Gesetzen, die die Seenotrettung beeinflussen und stellen erwähnenswerte Ereignisse vom zentralen Mittelmeer vor. Hier die CMI von September, Oktober, November und Dezember 2024.


Die Crew der Geo Barents von Ärzte ohne Grenzen (MSF) berichtete von einem Aufeinandertreffen mit bewaffneten libyschen Milizen (November-Ausgabe), die Männer und Frauen trennten, so dass die Geo Barents nur die Männer aufnehmen konnte, während die Frauen zurück nach Libyen geschleppt wurden.


Im Dezember hat Ärzte ohne Grenzen (MSF) bekannt gegeben, dass sie ihre Mission auf dem Mittelmeer beenden werden (Dezember-Ausgabe). In den letzten zwei Jahren wurde die Geo Barents von den italienischen Behörden viermal sanktioniert und insgesamt 160 Tage in Häfen festgehalten. Die Behördenanweisung, gerettete Menschen in weit entfernte Häfen zu bringen, zwang die Geo Barents dazu, ein halbes Jahr mit Hin- und Rückfahrten zu verbringen, anstatt zu retten. MSF verspricht jedoch, auf das Mittelmeer zurückzukehren.

Monitoring

Unsichtbar

borderline-europe und Arci Porco Rosso

Das Monitoringprojekt zur Situation von Geflüchteten in Sizilien und Italien mit dem Arci Porco Rosso konnten wir 2024 fortsetzen. Dank der Unterstützung der Evangelischen Kirche im Rheinland wird das auch im Jahr 2025 möglich sein. Die Ergebnisse unserer täglichen Recherchen sind in unseren Newslettern (Scirocco und Central Med Info) sowie in unseren Artikeln festgehalten. 


Über neue und alte Probleme eines nicht nachhaltigen Lebens in der saisonalen Arbeit schreibt unser Partner im Artikel "Rückkehr der Arbeiter nach Campobello, neue und alte Probleme eines nicht nachhaltigen Lebens". Die Camps in Campobello di Mazara, an der westlichen Küste Siziliens gelegen und jedes Jahr für die unerträglichen Bedingungen der Olivenernte bekannt, sind auch im Jahr 2024 wieder ein Thema. Menschen kommen von weit her, um sich hier ein karges Geld zu verdienen, doch dieses Jahr macht die Dürre der Ernte einen Strich durch die Rechnung.


Im November zeichnete Arci Porco Rosso im Artikel "Unsichtbare Opfer" die Ursachen und Folgen geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Migrantinnen in Italien nach. Die Ämter sind oft nicht ausreichend sensibilisiert, die Anti-Gewalt-Stellen für Hilfe nicht bekannt, weiterhin werden Frauen mit Gewalterfahrungen oft nicht ernst genommen.


In einem weiteren Beitrag "Jenseits des Gesetzes" setzt sich der Verein mit Menschenrechtsverletzungen in den zwei Abschiebungshaftzentren (CPR) Siziliens auseinander. Dort werden Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsländern, in Trapani v.a. aus Tunesien, inhaftiert, bis eine Entscheidung über ihre Abschiebung oder den Asylprozess getroffen ist.

Monitoring Kriminalisierung: "From Sea to Prison"

A dream of freedom: Neuer Bericht des sizilianischen Anti-Kriminalisierungsprojektes

borderline-europe & Arci Porco Rosso

In einem Land, das von einer rechten Regierung geführt wird, war zu erwarten, dass die Kriminalisierung von Bewegungsfreiheit  verstärkt wird. In unserem gemeinsam mit Arci Porco Rosso Palermo durchgeführten Projekt „From Sea to Prison“ schildern wir im neuen Vierteljahresbericht, wie Italien die Freiheit von Migrant*innen durch die Eröffnung neuer Haftzentren und die Einführung repressiver Gesetze wie den Gesetzesentwurf Nr. 1660 weiter beschneidet. Diese Entwicklung spiegelt sich unter anderem in der Ablehnung des Wiederaufnahmeantrags im Fall der „libyschen Fußballer“ wider, den Verfahren nach dem Schiffbruch von Cutro 2023 sowie der verstärkten EU-Kooperation mit Tunesien und Ägypten zur Verschärfung der Migrationskontrollen und Kriminalisierung von Hilfsleistungen.

Bemerkenswert war die Freilassung von Maysoon Majidi, während ihr Mitangeklagter Ufuk Akturk zu einer Haftstrafe von über acht Jahren und 1.600.000 € Strafe verurteilt wurde, was die Forderung der Staatsanwaltschaft übertraf. Im Europäischen Gerichtshofs wurde der Kinsa-Fall weiterverfolgt, ein wegweisender Fall. Zudem entschied im September das Gericht von Reggio Calabria, dass ein Schiffsunglück nicht automatisch dem Kapitän zugeschrieben werden kann.


Dies und vieles mehr zu einzelnen Fällen, Statistiken der Verhaftungen und unserer Recherche gibt es Ende Januar/Anfang Februar im neuen Jahresbericht "From Sea to Prison 2024" zu lesen! Wie immer auf unserer Homepage  - Projekt "Kriminalisierung in Italien" und auf unseren Social Media zu finden!

Monitoring extended

Geflüchtete im Libanon

Anja Pilchowski

Neben Libyen und Tunesien, den Hauptabfahrsorten nach Italien, haben wir 2024 das Thema Libanon aufgegriffen, da es auch immer wieder Geflüchtete gibt, die das Mittelmeer von dort aus überqueren. Wie also ist die Situation vor Ort, haben wir Anja Pilchowski und ihren Kollegen Ahmad Ibrahim gefragt. Sie schilderten in einem ersten Artikel, inwieweit auch die EU-Politik involviert ist.


Seit dem 1. Oktober 2024 ist der Krieg in Libanon durch Israels umfassende Aggression eskaliert. Über 1,2 Millionen Menschen flohen innerhalb des Landes, während andere versuchten, nach Zypern oder Syrien zu fliehen. Inmitten der Bombardierungen und Angriffe auf zivile Infrastruktur leiden besonders marginalisierte Gruppen wie z.B. queere geflüchtete Syrer*innen und sudanesische Migrant*innen. Trotz eines temporären Waffenstillstands bleibt die Zukunft unsicher. Welche Herausforderungen erleben die individuellen Menschen auf der Flucht, und welche Hilfsorganisationen leisten dringend benötigte Unterstützung? In ihrem vierten Artikel "Updates und Porträts aus dem Libanon" gibt Anja Pilchowski Aufschluss über diese Fragen. Alle Artikel sind auf unserer Homepage unter "Aktuelle Projekte - Der Mittelmeerraum" zu finden.

Weitere Veröffentlichungen

Refugees in Libya in Mazara del Vallo

Ein Tagungsbericht

Ende November fand eine Tagung der von Migrant*innen geführten Gruppe Refugees in Libya mit dem Titel "Von Tripoli nach Sizilien: Menschenrechtsakivist*innen aus Libyen evakuieren" statt. In unserem Artikel "Eindrücke einer migrationspolitischen Konferenz" vom 18.12.2024 gehen wir auf die wichtigsten Punkte ein.

+ !Nur noch wenige Wochen! +

STREIFLICHT "Vermisste Migrant*innen: Verlorene Leben und unerzählte Geschichten"


Im Frühjahr 2025 veröffentlichen wir ein neues Streiflicht-Magazin über vermisste Migrant*innen im Mittelmeerraum auf dieser Webseite. Unsere 2024 erschienene Podcastfolge zum Thema kann hier nachgehört werden.


In eigener Sache

Wir wechseln von X zu Bluesky

Wir werden unseren account auf X nicht länger nutzen und wechseln im Januar 2025 stattdessen zu Bluesky!

X befördert Hass, Rassismus und rechtsextreme Verschwörungstheorien.Wir möchten Musks Plattform nicht länger unterstützen. Wechselt mit uns zu Bluesky!

@borderline-europe.bsky.social



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